• Ei tuloksia

Das Studium einer Gesangsaufgabe

IV.2. Die Musik

Bei der Erarbeitung der Musik, die der Erarbeitung des Texts folgt, wählt Scheidemantel einen überraschenden Ansatz, der die „absolute Musik“ in den Vordergrund stellt. Die Idee der „absoluten Musik“, stellt nach Dahlhaus die Überzeugung dar, dass Instrumentalmusik, da sie „begriffs-, objekt- und zweck-los ist“, „das Wesen der Musik rein und ungetrübt“ repräsentiere.677 Scheide-mantel ist der Auffassung, dass eine „stilvolle Wiedergabe“ eines Stücks nur dann gewährleistet sein könne, wenn man die „musikalischen Absichten“ des Komponisten, das heißt den „Eindruck von der rein musikalischen Wirkung der Komposition“, durch eine instrumentale Wiedergabe des Werks sich vor-führen ließe oder sich selbst vorspielte.

Diese Konzentration auf die „absolute Musik“ mag auf den ersten Blick verwundern, handelt es sich doch bei der Erarbeitung von Gesangswerken stets um Werke mit Text, das heißt Werke, die eben gerade nicht als „absolute Musik“ angesehen werden. Für Wagner, „von dem der Terminus zu stammen scheint“, war der Begriff, den er polemisch benutzt, negativ behaftet, da er

„unter ‚absoluter Musik‘ nicht lediglich Instrumentalwerke ohne Programm, sondern eine von ihren Wurzeln, der Sprache oder dem Tanz, losgerissene und darum unmotivierte Musik“ verstand.678 Doch auch Wagner war von der Bedeutung der „absoluten Musik“, in ihrer „fundamentale[n] Wahrheit“ über-zeugt, wie Dahlhaus hervorhebt.679 So schreibt Wagner in Oper und Drama:

675 Ebd. S. 442.

676 Trede, 1911, S. 16.

677 Dahlhaus, 2007 (A), S. 318.

678 Dahlhaus, 2007 (B), S. 898.

679 Dahlhaus, 2007 (A), S. 315.

Sehr wichtig ist es, zu beachten, daß alles, was auf die Gestaltung der Oper bis in die neuesten Zeiten einen wirklichen und entscheidenden Einfluß ausübte, lediglich aus dem Gebiete der absoluten Musik, keineswegs aber aus dem der Dichtkunst, oder aus einem gesunden Zusammenwirken beider Künste, sich herleitet.680

Für Scheidemantel, der die absolute Musik im Sinne Hanslicks versteht (vgl. Kap. IV.6.1.), ist nur der „rein musikalische[] Eindruck“ imstande „die musikalischen Absichten des Komponisten“ zu verdeutlichen „die ihn bei der Schöpfung seines Werkes leiteten“.681 Das „Geheimnis einer ‚stilvollen‘ Wie-dergabe“ könne sich dem Sänger nie eröffnen, wenn er die Komposition nur im Zusammenhang mit dem Text betrachten würde, da er dann den „gesamten musikalisch-architektonischen Aufbau“ und die „durchlaufende[] melodische Linie“ der Komposition nicht nachvollziehen könnte. Als bestes Beispiel nennt er hierfür Schumanns Lied Nußbaum Op. 25, Nr.3 (Myrten). Doch auch in Wagners Werken findet Scheidemantel Stücke, die durch einen instrumenta-len Vortrag zu einer besseren Interpretation des Stücks beitragen. Hier seien es Wolframs „Lied an den Abendstern“ (Tannhäuser) und Stolzings „Preislied“

(Die Meistersinger von Nürnberg), die von einer solchen Herangehensweise profitieren würden. Scheidemantel ist gar der Meinung, dass der Vortrag die-ser Werke „um so [sic] vollkommener“ werde, je mehr man sich der „instru-mentalen Führung“ der Werke annähere. Am stärksten sieht Scheidemantel dies in den Werken Mozarts verkörpert, ebenso in der rhythmisch diffizilen Musik Bachs.682 Konzentration auf die absolute Musik bildet somit eine kon-träre Meinung zu der „Konsonanten-Schule“ Bayreuths, die das Wort in den Mittelpunkt des Interesses stellte. Aus dieser Haltung kann man schließen, dass Scheidemantel gleicher Meinung war wie Weingartner, der postulierte, dass man Wagner nicht auf eine andere Art singen sollte als die Werke frühe-rer Komponisten.

680 Wagner, 2008, S. 72. In einem Brief vom 30.1.1852 an Hans von Bülow schreibt er aber: „die absolute Musik kann nur Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen in ihren Gegensätzen und Steigerungen, nicht aber Verhältnisse irgend welcher socialen oder politischen natur [sic] ausdrücken“. [Sämtliche Briefe: Bd. 4: Briefe Mai 1851 bis Sep-tember 1852, S. 454. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 10184 (vgl. Wagner-SB Bd. 4, S. 275)].

681 GB, S. 151.

682 GB, S. 158.

IV.2.1. Die musikalischen Elemente und aufführungspraktische Überlegungen

Die musikalischen Elemente, die sich der Sänger nach einer „instrumentalen Vorführung“ des Werks vergegenwärtigen soll, dienen dazu, eine klare Vor-stellung von dem Werk zu bekommen, und zwar in all seinen Dimensionen.

Im musikalischen Teil seiner Ausführungen liefert Scheidemantel viel auffüh-rungspraktisches Wissen. Es ist erkennbar, dass seine Darlegungen auf das Werk Wagners gerichtet sind. Sein Ziel ist es, die als schwer geltenden Werke des Komponisten für die Aufführenden verständlicher zu machen.

Zuerst gelte es, sich die Melodie des Werks im Zusammenhang mit der Harmonie zu vergegenwärtigen. Dabei würden einfache Intervalle oft falsch gesungen, wie beispielsweise die große Terz, die immer „hoch gedacht“ werden sollte. Scheidemantel folgt der Tradition seines Lehrers, indem er die Interva-llschritte innerhalb der Oktave klassifiziert. Für Stockhausen sollte der Schü-ler, wie schon anfangs erwähnt, im Ambitus einer Sexte üben und dabei „die Halb- und Ganzton-Verhältnisse abmessen lernen“.683 In Bezug auf die große Terz stellt Scheidemantel fest, dass beim Schreiten vom Grundton zur Terz der Ganzton zwischen der Sekunde und der Terz viel „größer“ empfunden werden müsse als der erste Schritt von der Prime zur Sekunde.684 Von der Quarte zur Septime würde jeder Ganzton „größer erscheinen, als der vorhergehende“, den größten Schritt würde man jedoch zwischen der Sexte und der Septime fühlen, dafür wäre der Intervallschritt von der großen Septime zur Oktave wieder klei-ner und subjektiv fühle er sich kleiklei-ner an als der Halbton zwischen Terz und Quarte. Scheidemantel erläutert, dass hierfür die akustischen Gesetze gelten, die von Helmholtz in seinen Tonempfindungen näher erklärt werden.685 Schei-demantel betont ferner, dass das Wissen um diese Gesetzmäßigkeiten für den Aufführenden äußerst wertvoll sei, da es ihn „instinktiv“ richtig intonieren lassen würde.686

Die erweiterte Harmonik Wagners und seiner Nachfolger stellt nach An-sicht Scheidemantels den Sänger vor besonders große Herausforderungen.

Die dissonierenden Intervalle sowie tonleiter- und akkordfremde Töne seien schwer zu treffen. Dies ist nur verständlich, angesichts der oben bezeichne-ten Art Intervalle aufzufassen. Noch im Jahre 1884 stellte Stockhausen fest:

„Unsere moderne Scala ist für die ersten Versuche in der Gesangskunst zu

683 Stockhausen, 1884, S. 11.

684 GB, S. 153.

685 Scheidemantel gibt als Quelle den dritten Teil der Tonempfindungen an.

686 Ebd.

umfangreich und zu schwer“.687 Tonleiterfremde, dissonierende Töne müssen daher die Sänger vor fast unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt haben.

Auch hier möchte Scheidemantel für Abhilfe sorgen. Die entscheidende Hil-festellung besteht darin, das „nächstliegende[] konsonierende[] Intervall“ mit dem dissonierenden Intervall, das gesungen werden soll, in „Beziehung“ zu setzen. Das heißt, man solle die Auflösung des dissonieren Tones suchen und die Dissonanz dazu „recht scharf“ denken. Als Beispiel gilt ihm die Textstelle des Holländers „Dich frage ich, gepries‘ner Engel Gottes“ (1. Aufzug, 2. Szene, Nr.2 Rezitativ und Arie). Durch diese Vorgehensweise lerne man mit der Zeit dissonierende Töne zu treffen und sie gegebenenfalls auch „als ‚falsche Töne‘

gegen die Harmonie aufrecht zu erhalten“.688

Abb. 37. An dieser Stelle soll der Sänger die Dissonanz auf der Silbe „fra“

dadurch bewältigen, dass er die Auflösung der Dissonanz auf dem Ton [es]

sich vergegenwärtigt und den „falschen“ Ton [d] in Bezug zu diesem Ton sich vorstellt. Bildausschnitt: GB, S. 153.

Es könne auch helfen, schwierige Passagen mit vielen Vorzeichen en-harmonisch umzuschreiben. Auf jeden Fall sei ein gründliches Studium der Harmonielehre empfehlenswert, wolle der Sänger seine Aufgaben „begreifen“

und „empfinden“. Dies sei eine Grundvoraussetzung für die „Treffkunst“ des Sängers.689 Als Vorbild für diese Herangehensweise mag Scheidemantel sein Lehrer Stockhausen gegolten haben. Es wird berichtet, dass Stockhausen im Jahre 1862 Schnorr von Carolsfeld bei einem Zusammentreffen darum bat, ihm Stellen aus Wagners Tristan und Isolde vorzusingen, um die „fast fremde Musik Wagners kennenzulernen“. Dabei habe sich Stockhausen mit großem Eifer darum bemüht, „musikalisch schwierige Stellen“ aufzufassen. Er bat Schnorr von Carolsfeld, Stellen aus dem Tristan mehrfach zu wiederholen, um die Musik zu verstehen.690 Auch gegenüber der damals als schwierig

empfun-687 Stockhausen, 1884, S. 10.

688 GB, S. 152.

689 Ebd. S. 154.

690 Wirth, 1927, S. 222.

denen Musik von Hugo Wolf soll Stockhausen Interesse gezeigt und mit den musikalischen Formen seiner Lieder befasst haben.691

IV.2.2. „Im Anfang war der Rhythmus“

Scheidemantel beschäftigte sich ausgiebig mit der Stellung der rhythmischen Elemente beim Vortrag. Er sah sich dazu genötigt, da vor allem Bühnensänger diese häufig vernachlässigten. Dies sei aus mehrfachen Gründen tadelnswert:

Erstens, wegen der beabsichtigten Wirkung des Stücks, die durch eine schlech-te rhythmische Darbietung leide. Zweischlech-tens, durch die besondere Ausdrucks-kraft des Rhythmus, die eine große Bedeutung für den angemessenen Vortrag des Sängers habe und drittens, weil rhythmisch ungenau gestaltende Sänger nicht von „guten Dirigenten“ verpflichtet würden. Die rhythmischen Elemente des Gesangswerks bedurften daher der besonderen Aufmerksamkeit des Sän-gers, da eine Nichtbeachtung der Rhythmen gegen das Ethos des aufführen-den Künstlers verstoßen würaufführen-den und sich nachteilig auf seine Arbeitssituation auswirken könnten.

Scheidemantel beschäftigt sich mit häufig zu beobachtenden Nachlässig-keiten bei unterschiedlichen Taktarten und der Frage, wie eine Passage „stil-voll“ gestaltet werden solle. Mit größter Sorgfalt solle der Sänger die 6/8-Takte betrachten, da hier am häufigsten Fehler passieren würden. So seien das dritte und sechste Achtel im Takt oft nicht als „vollwertige“ Achtel, sondern als Sech-zehntel zu hören. Ebenso sei die Betonung des ersten und vierten Achtels nicht stilvoll, wenn dies nicht ausdrücklich vom Komponisten so gewünscht sei.

Die Triolisierung von Achtelbewegungen, die gegen Triolen gesungen wer-den (Duolen gegen Triole), sollen unbedingt duolisch, das heißt nicht auf die Triolen fallend, gesungen werden. Dies sei besonders in den Werken von Wag-ner von großer Bedeutung. Scheidemantel gibt als Beispiel den Fliedermonolog von Sachs an, in dem bei der Stelle „ich fühl’s und kann’s nicht verstehn …“

Duolen und Triolen abwechseln. Dieses sei unter allen Umständen zu berück-sichtigen, da diese Passagen „bei richtiger rhythmischer Ausführung an Deut-lichkeit des Vortrages ungemein“ gewinnen würden.

Eine ähnliche Stelle habe Tristan im dritten Akt von Tristan und Isolde zu singen. Um eine korrekte Ausführung der rhythmischen Elemente zu bewälti-gen, schlägt der Autor „gründlichstes Studium der rhythmischen Gliederung“,

„andauerndes Wiederholen einzelner Phrasen“ und die „strengste Beobach-tung der motivischen BegleiBeobach-tung“ vor, die am besten aus dem Studium der Partitur ersichtlich werde.692

691 Vgl. ebd. S. 487.

692 GB, S. 157.

IV.2.2.1. Das Rezitativ: Deklamation, Rhythmus, Tempo und Wagner693 Bei der Besprechung der Rezitative kritisiert Scheidemantel erneut die „Büh-nensängerkreise“. Für den Opernsänger sei es Usus, die Rezitative frei zu be-handeln. Der Rhythmus, den der Komponist für das Rezitativ erdacht hat, würde oft missachtet werden zugunsten einer künstlerischen „Freiheit“. Dies ist nach Scheidemantels Ansicht falsch, denn bei näherer Betrachtung würde ersichtlich werden, dass die meisten Komponisten die Rezitative „mit einer geradezu peinlichen Sorgfalt“ im Sinne einer guten Deklamation zusammen-gefügt hätten und nicht „willkürlich“, wie Scheidemantel unterstreicht und damit an den Ethos des Ausführenden appelliert. Hiermit bezieht sich Schei-demantel direkt auf Wagners „Auslassung[en] gegen die zeitgenössische Rezi-tativvortragspraxis“.694 Scheidemantel pointiert, dass der Sänger an die rhyth-mischen Vorgaben des Komponisten gebunden sei, denn ansonsten würde

„eine nicht unbedeutende Anzahl feinster Deklamationswendungen verloren“

gehen.695 Das beste Beispiel sei hierfür die sogenannte „Sprecher-Szene“ aus Mozarts Die Zauberflöte.

693 Scheidemantel, 1912, S. 87ff.

694 Vgl. Knust, 2007, S. 272.

695 Ebd. S. 158.

Abb. 38. Ein Beispiel für Scheidemantels Wunsch, die Aufführungspraxis der Werke Wagners zu verbessern, indem er auf eine genauere Durchfüh-rung der rhythmischen Elemente pocht. Hier möchte er, dass zwischen den Duolen und den Triolen genau unterschieden wird. Scheidemantel schaltete sich auch in den in der Zeitschrift Die Musik öffentlich ausgetragenen Dis-kurs um die richtige Textfassung in den Werken Wagners ein.693 Bildaus-schnitt: GB, S. 157.

Das Tempo in den Rezitativen sei frei wählbar, doch solle der Darsteller sich Gedanken machen über die Art, wie die Rollenfigur rezitiert. Das Rezitie-ren sollte zum Charakter, zum Alter und der Persönlichkeit der darzustellen-den Figur passen. Ferner soll die Situation in der Handlung über die Lebendig-keit des Tempos entscheiden. Auch hier sei die oben erwähnte „Sprecher-Sze-ne“ ein gutes Beispiel. Tamino sei jünger als der Sprecher und müsste daher ein „flotteres Tempo“ auswählen als der Sprecher: „Ein lebhafter Jüngling und ein würdiger, weltweiser Priester tauschen ihre Gedanken aus“.696 Dies müsse auch musikalisch zum Ausdruck kommen.

Für Wagner war das Rezitativ an sich „undeutsch“, da „sein Stil […] der französischen Rhetorik entlehnt war“.697 Der Sänger würde sie nur dazu benut-zen, „nach Belieben in der Produktion seiner Stimme sich zu ergehen“698 und nicht um die Handlung zu verdeutlichen. Dies schwingt in den Erklärungen Scheidemantels mit. Nicht die Freiheit sei wichtig, sondern das Befolgen der Anweisungen des Komponisten. Am wenigsten dürfe der Sänger „Notenwerte nach Gutdünken […] ändern“ oder „ihr Wertverhältnis zueinander […] ver-schieben“.699 Ganz deutlich wird hier abermals, dass der Sänger nur als ein Vehikel für den auszuführenden Ausdruck dienen soll. Bei der Besprechung der Werke Wagners hinsichtlich der Rhythmik unterstreicht Scheidemantel diesen Aspekt. Wagner hätte gar keine Rezitative geschrieben, daher gäbe es keine „Freiheit in der Gestaltung der rhythmischen Gliederung“. Um dies zu betonen, zitiert Scheidemantel Wagner erneut: die bloße „Kundgebung gefühl-voller Rede“ sei „ebenso genau“ gekennzeichnet wie die „lyrischen Gesangsstel-len“. Wagner schreibt über seine Musikdramen:

Wer daher diese Stellen mit den gewohnten Rezitativen verwechselt und dem-zufolge die ihnen angegebene Rhythmik willkürlich ändert und umformt, der verunstaltet meine Musik ganz ebenso, wie wenn er meiner lyrischen Melodie andere Noten und Harmonieen [sic] einfügen wollte.700

Ganz deutlich wird hier, dass Scheidemantel die Forderungen des Kompo-nisten erfüllt sehen wollte. Daher betont er, wie notwendig es sei, ein „streng rhythmisches Studium“ durchzuführen. Das Ziel sei, eine „selbstschöpferische

696 Ebd. S. 159.

697 Wagner, 1996, S. 103.

698 Wagner, 2008, S. 376.

699 GB, S. 158.

700 Zitiert in GB, S. 159.

Tätigkeit“ beim Gestalten. Dies könne sich jedoch nur dann einstellen, wenn der Sänger den Rhythmus vollständig beherrschen würde.701

Das „Secco-Rezitativ“ in den Opern Mozarts und Rossinis stellt nach An-sicht Scheidemantels eine Ausnahme dar. Hier dürfe der Sänger „im schnells-ten Tempo und mit leichter Stimme“ die rhythmische Gliederung der Rezitati-ve selbst bestimmen.702

IV.2.2.2. Auswendig lernen und singen

Die einwandfreie Beherrschung des Rhythmus soll den Sänger dazu befähi-gen, seine Gesangsaufgaben möglichst wirkungsvoll zu gestalten. Ein weite-res Element, das die künstlerische Wirkung des Vortrags verstärkt, ist nach Ansicht Scheidemantels, das Werk auswendig zu singen. Ein Sänger, der ge-nötigt sei in die Noten zu schauen, könne rhythmische Elemente eines Werks schlechter ausdrücken und wirke dadurch gehemmt. Dies sieht Scheidemantel als eine „erfahrungsgemäß festgestellte Tatsache“. Der „frei vortragende Sän-ger“ wiederum wirke in seinem Gestalten „rhythmisch lebendig, fortreißend“

und „überzeugend“, und daher solle auch der Konzertsänger sich bemühen, möglichst viel von seiner Aufgabe auswendig zu singen. Scheidemantel geht auch auf einen körperlichen Aspekt der Rollengestaltung ein, wenn er davon spricht, dass dem frei vortragenden Sänger „der Rhythmus sozusagen in den Gliedern sitzt“703, das heißt, dass der Sänger die rhythmischen Elemente eines Werks mit seiner Körperhaltung intuitiv ausdrückt und sich somit eines na-türlichen Agierens bedient, was für Wagner wichtig war. In Über Schauspieler und Sänger schreibt Wagner über seine Idealvorstellung der Meistersinger im Jahre 1868, bei der es den Sängern gelungen sei, unter seiner Anleitung, „mit getreuester Natürlichkeit rasch und lebhaft zu dialogisieren“ und dadurch mit einem „Pathos des Rührenden“ (im Gegensatz zu dem von Wagner kritisier-ten „falschen Pathos“) vor dem Publikum zu reüssieren. Zudem erhebt er die

„natürliche[] dramatische[] Vortragsweise“ zu einer Maxime seiner Kunst.704 Dieser Leitsatz war auch maßgebend für Scheidemantel, wie seine Anmerkun-gen zur Rolle des Rhythmus bei der Erarbeitung von Gesangswerken erkennen lassen.

Aus der Literatur über Scheidemantel geht hervor, dass er selbst beim Einstudieren von Gesangswerken keine Mühe gescheut habe. Dies wird durch Reichelt bestätigt, da er sich einen „Einblick“ in das Rollenstudium des Künst-701 Ebd.

702 Ebd. S. 160.

703 Ebd.

704 Wagner, 1996, S. 107f.