• Ei tuloksia

Das Studium einer Gesangsaufgabe

IV.1. Der Text

Nach Scheidemantel soll die Beschäftigung mit jedem Werk zunächst mit der Exegese des Gesangstexts beginnen. Der Sänger soll also den Sinn des Ge-sangstextes „unabhängig von der Vertonung“ verstehen. Dies soll mit einer

„vertieften Lektüre“ einhergehen. Die Forderung Scheidemantels wirkt selbst-verständlich, denn es sollte doch jeder Sänger wissen, was er singt. Aus der Sicht Wagners waren jedoch die hermeneutischen Erkenntnisse der Sänger seiner Zeit äußerst mangelhaft. So heißt es in seinem Bericht an König Ludwig II.:

Es ist unglaublich, auf welche Gleichgültigkeit gegen den „Text“ ihrer Arien man bei ihnen trifft; kaum verständlich, oft gänzlich unverständlich

ausge-649 Vgl. GB, S. 153 und Wagner, 1865, S. 44.

Abb. 36.

Scheide-mantel geht auf unter-schiedliche Aspekte des Vor-trags ein.

Im zweiten Teil seiner Gesangs-bildung untersucht er auch, wie der Lernen-de zu einem besseren Künstler werden kann.

Schließlich folgen mi-nutiös auf-gezeichnete Studienbei-spiele, die verdeutli-chen sollen, wie der Ge- sangsschü-ler seine Aufgaben vorbereiten soll. Bild:

GB, S. VI.

sprochen, bleibt der Vers und sein Inhalt, wie dem Publikum (wenn dieses sich nicht durch Nachlesen im Textbuche hilft) so auch dem Sänger selbst fast ganz unbekannt, und es ergibt sich schon aus diesem Umstande ein dump-fer, fast blödsinniger Zustand seiner Geistesbildung, welcher das Befassen mit ihm unter Umständen zu einer geradeweges [sic] beklemmenden Pein macht.650

Dies hätte auch Folgen für das Agieren des Sängers.651 Daher sieht es Scheidemantel als essenziell an, dass der Sänger die Frage „Verstehst du auch, was du singst?“ mit „Ja“ beantworten kann,652 um den Anforderungen der „po-etisch-musikalischen“ Kunst gerecht zu werden.653 Der Begriff „poetisch-musi-kalische Kunst“, womit Scheidemantel die Verbindung von Wort und Ton zu einer Gesangskomposition meint, findet eine ähnliche Definition bei Wagner:

Wie in den Elementen des Gesanges Sprache und Ton sich berühren, reichen bei seiner höheren Ausbildung und Anwendung Musik und Poesie sich die Hand.654

Hier drängt sich der von Scheidemantels benutzte Begriff des „nachschaf-fenden Sängers“ in den Fokus. Er steht in Bezug zum „schaf„nachschaf-fenden Künst-ler“ Wagners655 und in Opposition zu dem von Wagner genannten „künstle-risch-egoistischen nachahmungshandwerkertreiben“ [sic].656 Für Wagner kann nur der „schaffende Künstler“ die „eigentliche Schöpfung“ eines richtigen „Sty-les“ „im Geiste der Produktion“ erschaffen. Für Scheidemantel bedeutet dies, dass der „nachschaffende Sänger“ diesen Geist weitertragen soll, indem er sich den Wünschen des Komponisten unterordnet, auch wenn ihm die Textaus-deutung des Komponisten „unnatürlich, geschraubt oder gar widersprechend“

vorkommen sollte.657 Diese Identifikation mit der Ausdeutung des Texts in Verbindung mit der Musik soll so weit gehen, dass die eigenen Überlegungen zur Interpretation des Textes „ganz und gar vernichtet“ werden, und „die Emp-findung des Komponisten als die einzig wahre und richtige zur Überzeugung“

werden soll.658 Einzig bei schlechten Opernübersetzungen erlaubt es

Scheide-650 Wagner, 1865, S. 15.

651 Ebd.

652 GB, S. 101.

653 Ebd. S. 135.

654 Wagner, 1865, S. 35.

655 Ebd. S. 44.

656 Wagner, 2008, S. 501.

657 GB, S. 161.

658 Ebd. S. 162.

mantel die Texte zu verbessern, obwohl er der Meinung ist, dass die wenigsten Sänger die Intentionen des Komponisten so gut verstehen könnten, um ad-äquat Übersetzungsfehler zu korrigieren. In diesem Zusammenhang bezieht er sich erneut auf Wagner:

Die verantwortlichen Leiter der deutschen Opernbühne sollten schlecht über-setzte Opern nicht annehmen, oder von sachverständigen Übersetzern frisch übersetzen lassen, damit endlich einmal die Bühne gesäubert würde von dem ekelhaften ‚Operndeutsch‘, das einem im Wagnerschen Kunstwerk erzogenen deutschen Opernsänger zu singen kaum noch zugemutet werden kann.659 In Oper und Drama und anderen Schriften macht Wagner den Einfluss von schlechten Opernübersetzungen dafür verantwortlich, dass deutsche Opernsänger unfähig wären, Deutsch korrekt zu singen. Da der Text in den Übersetzungen nicht „sinngebend“ verstanden werden konnte, hätten die deut-schen Sänger die deutliche Aussprache geopfert und den Gesang als ein „reines musikalisches Instrument“ benutzt, um der „Stimmeitelkeit“ zu dienen.660 An dieser Stelle sei kurz auf das Kommunikationsmodell aus Kapitel IIa. erinnert.

Selbstredend soll der Singende den Inhalt seiner Äußerung sehr gut kennen, damit es zu einer Kommunikation zwischen ihm und dem Publikum kommen kann. Die Wünsche des Komponisten sind durch die Notation des Werks ge-geben und sollen vom Sänger interpretiert werden, sofern es Interpretations-bedarf gibt. Es darf aber niemals außer Acht gelassen werden, dass es sich bei einer Gesangsdarbietung um einen künstlerischen Vorgang handelt, dessen Ziel darin begründet ist, dass der niedergeschriebene Text und die Noten eines Kunstwerks im Moment der Aufführung lebendig gemacht werden.

IV.1.1. Die Aussprache

Als zweites sollen die „sprachlichen Elemente“ des Kunstwerks erarbeitet wer-den. Der Künstler soll nicht nur das verstehen, was er singt, auch die Aus-sprache soll korrekt und ausdrucksvoll gestalten werden. Hierbei betont Schei-demantel noch einmal, dass die Schrift von Theodor Siebs als Regelwerk für die Erarbeitung der Sprache benutzt werden sollte. Scheidemantel folgt seiner Empfehlung, den Text des betreffenden Werks in der phonetischen Schrift zu fixieren, da die komplizierten Ausspracheregeln des Deutschen leicht zu einer fehlerhaften Aussprache beim Singen führen würden. Siebs stellt dazu fest:

659 Ebd.

660 Wagner, 2008, S. 375f.

Die Schreibung kann niemals Maßstab für die Aussprache sein. Die Schrift ist gegenüber der Aussprache stets etwas Sekundäres. Um die Fülle dieser unse-rer verschiedenen Laute darzustellen, reichen nicht einmal die vielen Zeichen aus, die von den Phonetikern erfunden sind; wieviel weniger die 24 oder 25 Zeichen unseres Alphabetes.661

Siebs betont, dass die Buchstaben, die zu Zeiten Karls des Großen (747–

814) ausgewählt worden sind, um die deutsche Sprache aufzuzeichnen, für die damaligen lateinischen Laute galten. Daher sei es unsinnig, die heutige Schriftform als richtungsweisend für die Lautform zu nehmen. Irreführend sei beispielsweise die Behandlung der Diphthonge in der deutschen Sprache, wie die Wörter „Bein“ oder „Leute“ verdeutlichen würden. In beiden Fällen sei kein Vokal „E“ zu hören, beim letzteren Exempel nicht mal ein „U“. Daraus fol-gert Siebs: „Die Orthographie täuscht uns stets über die Aussprache“.662 Siebs‘

Credo lautet daher: „Weg mit dem Schriftbilde“. Nur dieses würde den Aus-sprechenden vor den „großen Fehlern bewahren, die durch Berücksichtigung der Orthographie entstehen“.663 Ferner sei eine „tüchtige Ausbildung in der Phonetik“ wichtig, da sie zu einer „feinen Beobachtung der Lautunterschiede“

anregen und dadurch „Gehör wie Sprachwerkzeuge“ üben würde.664 Besonders wichtig für Siebs ist aber:

Die Bühne muß vor allem auf Deutlichkeit und Fernwirkung bedacht sein, und daher sind ihrer Sprache langsameres Tempo und größerer Kraft-aufwand eigen als unserer Umgangssprache. Die Aussprache der Bühne übt gleichsam eine mikroskopische Vergrößerung der Sprachelemente aus, und die für den einzelnen Laut geforderte Aussprache darf darum solcher Ver-gröberung nicht hinderlich sein; in noch höherem Grade gilt das für den Ge-sangs.665

Dieses Zitat Siebs ist praktisch deckungsgleich mit der Aussage Scheide-mantels in Kap. III.9.

IV.1.2. Die Grundfärbung als künstlerisches Mittel

Bei der sprachlichen Gestaltung des Werks soll der Sänger auch die „Grund-färbung des Ganzen und seiner Teile“ konzipieren. Wie dies in einem künst-lerischen Prozess erschlossen werden soll, erklärt der Autor zu einem frühe-661 Siebs, 1920, S. 11.

662 Ebd.

663 Ebd. S. 12.

664 Ebd.

665 Ebd. S. 16 (Hervorheb. im Original).

ren Zeitpunkt anhand des Schubertlieds Der Doppelgänger. Hier zeigt sich in einem konkreten Beispiel, wie Scheidemantel die Erkenntnisse von Benedix für den Gesang benutzte. Obwohl das Lied bekannt ist, werden die einzelnen Zeilen, die Scheidemantel zitiert und die Erläuterungen von Benedix aus dem Kapitel III.4.2. verdeutlichend hinzugefügt.

Da das Lied am Anfang eine „düstere Nachtstimmung“ kennzeichne, solle man eine Grundfärbung von dem Vokal „U“ für die ersten vier Zeilen des Ge-dichts auswählen. Weiterhin sollen die Konsonanten „bei aller Deutlichkeit […] wie von einem düstern Schleier eingehüllt erscheinen“.666 Die „U-Tonart“

ist die dumpfste für Benedix und passt daher am besten für die „düstere Nacht-stimmung“ Scheidemantels.

Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen, In diesem Hause wohnte mein Schatz;

Sie hat schon längst die Stadt verlassen, Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.

Scheidemantel interpretiert, dass die nächsten vier Zeilen einer „subjek-tiv erregten Stimmung“ weichen, welche in „lebhaften Worten zum Ausdruck“

komme. Daher solle man hier eine hellere „A“-Grundfärbung auswählen. Die Konsonanten müsse man hier „schärfer“ artikulieren. Dieses ließe sich durch

„energischere Sprachmuskeltätigkeit“ oder „länger andauernde Artikulation“

erreichen, beispielsweise bei dem Konsonanten „M“. Die A-Tonart ist eine „ru-fende“ für Benedix. Sie wäre „belebt, aber nicht zu schnell“.

Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe, Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt;

Mir graut es, wenn ich sein Antlitz sehe – Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.

Die anschließenden drei Zeilen sollen einen „verzweiflungsvollen höhni-schen Ton“ annehmen, der vom „ungespannten e aus“ entwickelt werden soll.

Die Konsonanten sollen vom Ausdruck her „heftig und scharf“ artikuliert wer-den.667 Die „breite Tonart“ in E, die Scheidemantel hier mit der „harten Tonart“

verbindet, ist eine, „die sich [gegen] etwas feindlich Gegenüberstehendes

rich-666 GB, S. 138.

667 GB, S. 138.

tet“.668 Womöglich lieferte dieser Satz von Benedix die Idee für Scheidemantel, mit der er das Schubertlied Der Doppelgänger interpretiert.

Du Doppelgänger, du bleicher Geselle!

Was äffst du nach mein Liebesleid, Das mich gequält auf dieser Stelle

Die letzte Zeile „So manche Nacht in alter Zeit“ wiederum, soll die „stark gemilderte Grundfärbung“ wieder einnehmen, die sich der „dunkeln Grundfär-bung“ des Anfangs nähert.669

Wie Scheidemantels Erläuterungen hier noch stärker verdeutlichen, rührt der Kern seiner künstlerischen Ideen über die Rolle der Sprache beim Singen aus der Lehre von Roderich Benedix her und findet in der Grundfärbung ih-ren Ausdruck (vgl. Kap. III.4.2). Die Erklärungen liefern eine Antwort auf die Frage, wie die Sprache den Gesang beeinflusst, das heißt, wie der „tönende Laut“, der für Wagner die Essenz der menschlichen Verlautbarung ist, das Gefühl, das der Künstler seinen Mitmenschen mitteilen will, transportiert und im Gesang als künstlerisches Mittel zum Vorschein kommt. Hierbei sind es die Vokale, die bei der Vermittlung eine größere Bedeutung bekommen, denn sie machen den „tönenden Laut“ aus. Es obliegt daher dem Gesangskünstler in Scheidemantels Methode, auszuwählen, welchen „tönenden Laut“ (das heißt welche Grundfärbung) er für seine Gesangslinie wünscht.

IV.1.3. Vokalqualitäten, Konsonanten und Lautverbindungen

Bei der weiteren Erarbeitung der sprachlichen Elemente des Gesangswerks, unterstreicht Scheidemantel die Bedeutung der „Flüsterstimme“ für die Über-prüfung der einzelnen Vokalfarben. Hier folgt er wieder seinem Lehrer Stock-hausen, der es als wichtig ansah, das „Ansatzrohr […] in der Flüsterstimme auf die 15 Vocale“ abzustimmen.670 Für Scheidemantel ist die Überprüfung der Vokale durch die „Flüsterstimme“ erforderlich, um die richtige sprachliche In-terpretation des Stückes zu kontrollieren:

Die vom Stimmton unbeeinflußte, klanglose Flüsterstimme läßt keine Selbst-täuschung über die Bildung der Vokale und Konsonanten zu, sie zwingt den

668 Benedix, 1901, S. 50.

669 SB, S. 139.

670 Stockhausen, 1884, S. 8.

Sprecher, sein eigner Zuhörer zu sein, der sich selbst gleichsam wie einen Andern kritisch belauscht.671

Hier geht es Scheidemantel um die unterschiedlichen Farben von Vokalen und die unterschiedlichen Schärfen der Konsonanten. Diese Überprüfung ist wohl auch nötig, um den Einfluss der verwendeten „Grundfärbung“ nicht über-mäßig werden zu lassen. Scheidemantel artikuliert jedoch an keiner Stelle die

„verschleiernde“ Wirkung der Grundfärbung auf die Textverständlichkeit. Die Nachteile dieser Technik scheinen ihn nicht gestört zu haben. Es ist etwas pa-radox, dass Scheidemantel an einer früheren Stelle in seiner Schrift verlangt, dass man die Vokale möglichst unterschiedlich artikulieren soll:

[…] man muß die Vokale mit einem gewissen Aufwand von Mühe darstellen, damit ihre Farbe bestimmter, unzweideutiger, ihre Ähnlichkeit vermindert werde.672

Man soll also „das U dunkler, das O runder, das E heller, das I spitzer“ for-men. Die „Grundfärbung“ sollte diesen Effekt wohl lindern (vgl. Kap. III.2.5.).

Dass Scheidemantel sich selbst an diese Art der Diktion hielt, wird in seinen Aufnahmen deutlich.

Scheidemantel geht in jeder seiner Schriften auf die Aussprache der deut-schen Sprache ein und setzt damit eine Tradition fort, die sein Lehrer Stock-hausen mit seiner Schrift Der Buchstabe G und die sieben Regeln des Herrn H.

Dorn begründete. In diesem Buch beschäftigt sich Stockhausen mit der Aus-sprache des Deutschen, indem die AusAus-sprache des Buchstaben G analysiert und eine Tabelle über die Aussprache von unterschiedlichen Sprachelementen dargeboten wird. Scheidemantels Absicht ist dieselbe wie die Stockhausens, nämlich eine Vereinheitlichung der deutschen Sprache im Sinne einer Ver-deutlichung der Aussprache während des Singens. In Stockhausens Gesangs-schule in Frankfurt am Main gab Stockhausens Frau, Clara Stockhausen, den Unterricht im Fach „dialektfreie Aussprache“. In diesen Stunden wurde die deutliche Aussprache des Deutschen gelehrt.673 Es wird von Wirth berichtet, dass mancher Student Stockhausens, wie sie es ausdrückt, „einen durch seinen Heimatdialekt […] angeborenen Feind zu überwinden“ hatten.674 Stockhausen empfand die heimatlichen Dialekte seiner Schüler an sich nicht tadelnswert, er wünschte jedoch:

671 GB, S. 139.

672 Ebd. S. 8.

673 Wirth, 1927, S. 432.

674 Ebd. S. 441.

[…] neben der heimatlichen Mundart Ehrfurcht genug vor dem Dichtwerk, um es durch Wiedergabe in reiner, deutlicher Aussprache zu adeln.

Nach Wirth verlangte er daher eine „genaue Kenntnis und Ausbildung al-ler sprachlicher Elemente, besonders der Vokale.675 Die besondere Konzentra-tion Scheidemantels auf die Vokale ist also ebenfalls schon von seinem Lehrer vorgezeichnet. Zudem wird von Trede berichtet, dass Scheidemantel selbst am Anfang seiner Karriere mit seinen „biederen Weimarer Tonfall“ zu kämpfen hatte. Daher mag seine eigene Erfahrung hier in seine Pädagogik eingeflossen sein.676